Wie treu sind deine Blätter
Wir wissen dank pflanzenanatomischer Erkenntnisse, dass der Autor von „O Tannenbaum“ recht hat: Auch die Nadeln einer Tanne sind Blätter: Alle Teile einer Pflanze lassen sich auf drei Grundorgane zurückführen: Wurzel, Stamm und Blatt. Auch die Nadeln der Nadelbäume sind eigentlich Blätter. Die der Tanne, Eibe und Lärche sind weich und biegsam, ähneln also Blättern weit mehr als die dünnen, langen der Föhren oder die kurzen, spitzen der Fichte und des Wacholders.
Die „richtigen“ Blätter der Kräuter und Laubbäume sind flach, weich, dünnhäutig und sandwichartig aus vier Schichten aufgebaut, eine davon ist die chlorophyllführende, die dem Blatt die Photosynthese erlaubt. Dazu kommen Wasserleitungsgefäße und, auf der Unterseite, winzige Spaltöffnungen, die dem Gasaustausch dienen und Wasserdampf entlassen – das ist der wichtigste Motor für die Bewegung des Wasserstroms im Stamm. Diese Öffnungen können sich erweitern und verengen bis zur Schließung, sind aber dennoch die Crux, wenn der Winter kommt! Weniger die Kälte als der drohende Wasserverlust im Boden lässt die Blätter welken – sie werden abgeworfen.
Nadelbäume behalten ihre Nadeln mit wenigen Ausnahmen. Das ist wohl mit dem „treu“ im Weihnachtslied gemeint. Aber wie schaffen sie das? Einerseits ist es die Nadelform, die eine möglichst kleine Oberfläche, und damit Verdunstungsfläche, erzeugt. Andererseits liegen die Spaltöffnungen versenkt, zudem durchziehen harzgefüllte Gänge die Nadel. Diese platzen, wenn man einen benadelten Zweig über eine Kerzenflamme hält und in der Luft ein Wölkchen Harz verpufft. Nadeln haben auch eine harte Außenschicht, die Epidermis, die bei den flachen Blättern der Laubbäume als dünne Haut das Blatt nach oben und unten abschließt. Die harte, harzige Epidermis der Nadeln hält Pflanzenfresser ab. Das tat sie schon Jahrmillionen bevor Laubbäume in der Kreidezeit auftauchten. Nadeln sind nicht nur schmerzhaftes Futter für Pflanzenfresser, sie sind dank ihrer harten Haut und der harzigen Inhaltsstoffe schwer verdaulich. Das gilt auch für Zersetzer-Organismen im Waldboden: Während sich aus Laubstreu milder, alkalischer Humus bildet, entsteht aus Nadelstreu nur schwer zersetzlicher saurer Rohhumus, den, noch lange nachdem der Wald geschlägert ist, Pflanzen wie die Heidelbeere und manche Gräser anzeigen.

Tannennadeln haben auf der Unterseite je zwei gut sichtbare Wachsstreifen.
Taktiken gegen Wassermangel
Wassermangel hat einige Strategien entstehen lassen. Die Tannennadeln tragen an der Unterseite zwei weißliche Wachsstreifen, gut für uns, um sie von der giftigen Eibe zu unterscheiden, deren Nadeln ebenfalls weich sind und horizontal links und rechts vom Zweig stehen, während die der Fichte spitz sind und rund um den Zweig stehen. Die Lärche gar wirft ihre Nadeln wie ein Laubbaum ab, nicht ohne sie vorher prachtvoll goldgelb zu färben.
Auch der Sitz der Nadeln am Zweig zeigt bemerkenswerte Abwandlungen: Jede Tannennadel sitzt auf einem Pölsterchen, die Nadeln der Föhren sitzen zu zweit beisammen, die der Zirbe gar zu fünft und die der Lärche als ganze Büschel auf knopfartigen Kurzsprossen, die am entnadelten winterlichen Zweig als kleine Knöpfe erscheinen.
Trockengebiete, heiße Steppen und Halbwüsten haben ständig mit Wassermangel zu kämpfen. Die Macchie im Mittelmeerraum hat als Reaktion Hartlaubgewächse hervorgebracht, mit ledrigen Blättern wie beim Lorbeer. Auch sie haben versenkte, teils noch durch Haare verengte Spaltöffnungen, zum Beispiel der Oleander. Sie brauchen daher die Blätter nicht abzuwerfen, Steineichen und Stechpalmen zeigen das alljährlich.
In heißen Tropenländern gibt es von Natur aus praktisch keine Nadelbäume. In der Mittagshitze heißt es allerdings auch für Laubbäume, sich vor zu großer Verdunstung zu schützen. Manche klappen ihre Blätter in der Mitte zusammen und verkleinern so ihre Oberfläche. Bestes Beispiel ist die tropische Liane Bauhinia.
Die Eukalyptus-Bäume Australiens zeigen eine andere Strategie: Sie drehen die Blätter mit der Schmalseite der Sonne nach, sodass sie von heißen Sonnenstrahlen nur gestreift werden. Wer sich also in Australien zur Mittagshitze in den Schatten eines Eukalyptusbaumes legen will, wird schwer enttäuscht: Er wirft keinen brauchbaren.
IN MEMORIAM
Der Autor der Natur-Beiträge im Granatapfel-Magazin, Herr Reinhold Gayl, ist am 7. Oktober 2025 im Alter von 83 Jahren verstorben.
Der große Naturfreund und renommierte Biologe, Pädagoge und Buchautor hat seit mehr als 22 Jahren regelmäßig Texte für den Granatapfel verfasst, die die Natur in all ihrer Schönheit und Vielfalt greifbar machen. Schon im vergangenen Sommer hat er uns seine Beiträge für das Jahr 2026 geschickt, die wir ganz in seinem Sinn noch veröffentlichen werden.
Jedes Werden in der Natur, im Menschen, in der Liebe, muss abwarten, geduldig sein, bis seine Zeit zum Blühen kommt. Dietrich Bonhoeffer
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