
Die Kunst der Verkleidung
Sind es Wespen? Gewiss, einige sind darunter. Doch die meisten Blütenbesucher, die aussehen wie die ungeliebten Insekten, sind Schwebfliegen. Das sind harmlose Tierchen, die weder einen Stachel haben noch schlecht schmecken, was ein häufiger Grund für auffällige Schutzfärbungen bei Tieren ist. Marienkäfer und Feuersalamander etwa fallen mit grellen Farben auf und geben damit ihren Fressfeinden deutlich zu verstehen: „Tu’s nicht, lass mich in Ruhe, ich werde dir gewaltig im Magen liegen!“ Schwebfliegen ähneln in Färbung und Gestalt täuschend den gefährlichen Wespen, ohne deren Waffen. Sie tragen gewissermaßen „Wespen-Tracht“ oder besser „Wespen-Uniform“. Dieses Phänomen nennt man „Mimikry“ oder noch genauer „Bate’sche Mimikry“ nach dem Naturforscher Henry Walter Bates, der in Südostasien und am Amazonas forschte und die Bezeichnung ersonnen hat. Die Schwebfliegen sind nicht die einzigen, die harmlos sind, aber gefährlichen Tieren verblüffend ähnlich sehen. Auch andere Fliegen haben sich das Aussehen eines gefährlichen, mit einem Stachel bewehrten Insekts zugelegt: Die hübschen Hummelschweber ähneln oberflächlich Hummeln, die ihren steif hervorragenden, stilettartigen Rüssel in tiefe Blütenröhren stecken.
Zur Abschreckung
Auf Mimikry, beziehungsweise Tiere, die sie aufweisen, stößt man allerorten. Auch Hornissen etwa haben Nachahmer gefunden. Der Hornissenschwärmer, ein harmloser, aber gewiss recht nahrhafter Nachtschmetterling, ähnelt so verzweifelt einer Hornisse, dass selbst Entomolog:innen, besonders Student:innen, darauf hereingefallen sind und den hübschen Schmetterling haben ziehen lassen, statt ihn zu untersuchen. Schmetterlinge zeigen oft auf ihren Flügeln die Imitation von Wirbeltieraugen, die etwa einem Vogel, der sie fressen will, vorschwindeln, eine Katze starre ihn an. Unsere Pfauenaugen – sowohl Tag- als auch Nachpfauenauge – zeigen das in abgeschwächter Form. Tropische Augenfalter dagegen haben nicht nur perfekte „Falschaugen“, sie kombinieren diese auch mit ihrem Verhalten bei Gefahr. Werden sie angegriffen, öffnen sie blitzartig die Flügel, und den Fresser starrt plötzlich statt eines Schmetterlings das gefährliche Augenpaar einer Raubkatze an. Augen- und Verhaltensimitationen zeigt auch die Raupe des Mittleren Weinschwärmers. Sie trägt auf den Seiten der Brust beiderseits wunderbar schillernde Augenflecken. Wird sie angegriffen, zieht sie den Kopf ein, und nun sitzen die Augenflecken genau dort vorne, wo sie bei einer Schlange säßen. Und genauso sieht dann das Gesicht der Raupe aus.
Besonders raffiniert ist die Mimikry, wenn die betreffenden Tiere die eigenen Körperteile nachahmen. Wozu das, fragt man sich? Wieder sind es Schmetterlinge, die uns das vorführen. Wird ein Schmetterling angegriffen, dann fliegt er normalerweise nach vorne weg. Schlaue Vögel orientieren sich also nach seinem Kopf und greifen ihn direkt dort an, dann fliegt ihnen die Delikatesse direkt in den Schnabel. Das hat sich ein tropischer Schmetterling zunutze gemacht: Sein Kopf ist unscheinbar und kaum vom restlichen Körper zu unterscheiden, doch seine Flügel zeigen hinten eine genaue Kopfnachbildung mit Augen und Fühlern. Wähnt sich ein Vogel besonders schlau und greift von vorne an, dann staunt er nicht schlecht – der Schmetterling fliegt nach der anderen Seite weg, nämlich nach dort, wo sein wirklicher Kopf sitzt.
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